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Jonglieren mit Wörtern und Bällen

Geflüchtete Kinder üben gemeinsam mit anderen Dorfkindern Zirkuskunststücke und Zaubersprüche. Ein „Zirkus-gestaltet-Vielfalt“-Projekt verband weltbekannte Kinderbücher mit Artistik, um Sprachfähigkeiten und Selbstbewusstsein zu stärken.

In drei Ferienworkshops für geflüchtete Kinder und Kinder aus dem Umland von Barnstorf verknüpfte der niedersächsische „Zirkus Barbarella“ erfolgreich Literaturvermittlung mit Zirkusarbeit. Dabei sollten Selbstsicherheit, Sprachschatz und Sprechvermögen der jungen Menschen gefördert werden. Für „Zirkus der Vielfalt“-Projekte arbeiten in Barnstorf die örtliche Grundschule, die Bibliothek der Gesamtgemeinde und der Verein zur Förderung ganzheitlicher Bildung zusammen – ein bewährtes Bündnis, das immer wieder neue Schwerpunkte setzt. In drei durch „Kultur macht stark“ geförderten Sommerferien- und Herbstferienkursen 2019 und 2020 (der Sommerkurs 2020 fiel Corona-bedingt aus) stand transkulturelle Sprachvermittlung im Zentrum.

So kooperierte das Bündnis pädagogisch und organisatorisch: Die Grundschullehrerinnen und -lehrer wählten geeignete Kinder aus und nahmen, unterstützt durch die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, Kontakt zu den Eltern auf. Zum Start der Ferienworkshops lud die Bibliothekarin Kleingruppen von zwei bis vier Kindern ein. Sie las ihnen die von den Zirkuspädagogen ausgewählte Geschichte zweisprachig vor. Kleine Textpassagen in ihrer Herkunftssprache zu hören ist für geflüchtete Kinder ein emotionaler Willkommensgruß – und für einheimische Kinder ein Türöffner zu den Herkunftssprachen ihrer Zirkusfreunde. Im Sommer und Herbst 2019 war der Impulstext eine gekürzte Fassung von „Die kleine Hexe“, im Herbst 2020 das Grimm’sche Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten“. Geflüchtete Kinder erhalten auch eine Einführung in die Buchausleihe und den Bestand. Bibliotheken als geselliger öffentlicher Ort sind für die meisten von ihnen Neuland. Sich eigenständig Bücher holen zu dürfen war im vergangenen Herbst für die 18 Workshop-Kinder aus Afghanistan, Syrien und Polen neu und ein großes Vergnügen.

Zirkusfreundinnen: Ana und Lucy texten und telefonieren immer noch miteinander.
Zirkusfreundinnen: Ana und Lucy texten und telefonieren immer noch miteinander.  © Christopher Glanzl

Am zweiten Projekttag ging es – von vielen Kindern aufgeregt herbeigesehnt – endlich an jenen magischen Ort, an dem scheinbar Unmögliches gelingt: in den Zirkus. Angeleitet vom erfahrenen Zirkuspädagogikteam Regina und Reinhard Böhmer machten die 18 Kinder aus Unterkünften für Geflüchtete gemeinsam mit vier Dorfkindern eine Woche lang Geschicklichkeitsübungen und übten Akrobatikkunststücke ein. „Das gibt ihnen das Selbstvertrauen, das ihnen in der Schule oft fehlt, um Fortschritte im Unterricht zu machen. Danach erlernen sie die deutsche Sprache meist einfacher und finden leichter Freunde“, resümiert Regina Bömer. Auch einheimische Kinder mit Sprach- oder Formulierungsproblemen gewännen sicht- und hörbar an Sicherheit.

„Die kleine Hexe“ hat Regina Bömer als Textgrundlage ausgewählt, weil Otfried Preußlers populäres Kinderbuch für sie eine universelle Ermutigungsfabel ist: „Ein sehr dynamisches kleines Mädchen, stellt sich Herausforderungen in seinem Leben. Sie bewältigt auch Konflikte mit der älteren Generation und weitet deren Horizont.“ Ein mehrfach inspirierendes Vorbild für Teilnehmende mit und ohne Fluchterfahrung. Im dritten „Zirkus-der-Vielfalt“-Kurs wählte das „Zirkus Barbarella“-Team in den Herbstferien 2020 das Grimm’sche Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten“ als literarisches Vorbild: Vier sehr unterschiedliche, aus ihrer jeweiligen Heimat vertriebene Tiere wachsen in der Fremde zu einem starken solidarischen Team zusammen – eine Ermutigungsgeschichte für geflüchtete Kinder ebenso wie für einheimische.

Anfangs, so Regina Bömer, stehen vor allem die Kinder mit Fluchterfahrung in der Trainingshalle von „Zirkus Barbarella“ scheu in der Ecke. Im Kopf bringen sie belastende Erlebnisse aus Kriegen oder von der Flucht mit und haben auch in Deutschland oft Ausgrenzung erfahren. Das ging im Herbst 2019 auch der achtjährigen Ana aus Afghanistan so, erinnert sich Regina Bömer: „Doch sobald sie im gemütlichen Zirkuswagen neben der neunjährigen Lucy zu Szenen aus „Die kleine Hexe“ Bilder malen durfte und die beiden Mädchen gemeinsam Zirkuslieder sangen, blühte Ana auf.“ Ein weiterer Vorteil von Preußlers bekanntem Kinderbuch aus den 1950-er Jahren für die pädagogische Arbeit: Es ist in fast 50 Sprachen erschienen, unter anderem auf Arabisch.

Um den Wortschatz zu erweitern und Grammatikkenntnisse zu festigen, erstellte das Zirkuspädagoginnen-Team Lückentexte und Kreuzworträtsel zu zentralen Begriffen aus dem Buch. Ana und Lucy lieben Musik. Bald sangen sie gemeinsam das Barbarella-Mottolied „Wir rollen mit dem Zirkusteam, mit vielen bunten Wagen“. Geschicklichkeits- und Sprachübungen befördern einander in der zirkuspädagogischen Arbeit: Gemeinsames Singen kann Sprechblockaden und Wortfindungsprobleme lösen. Seilspringen zu Musik hilft unruhigen Kindern, einen bedächtigeren, gleichmäßigen Bewegungsrhythmus zu finden. Teller zu jonglieren schult die Konzentration, was wiederum beim Deutschlernen hilft. Und gemeinsame Akrobatikkunststücke wie der Bau einer Menschenpyramide helfen über Berührungsängste und manche transkulturelle Barriere hinweg. Hier muss jeder jedem vertrauen können. Mädchen und Jungen arbeiten zusammen, ohne zu hinterfragen, ob sie das dürfen oder nicht.

„Die kleine Hexe“ war dieses Mal die literarische Ermutigung zum Deutschsprechen mit Hexensprüchen, Kreuzworträtsel und selbstgemalten Bildern.
„Die kleine Hexe“ war dieses Mal die literarische Ermutigung zum Deutschsprechen mit Hexensprüchen, Kreuzworträtsel und selbstgemalten Bildern. © Christopher Glanzl

Eine abschließende Vorstellung gibt es ganz bewusst nicht nach einer Woche Akrobatikschule und Sprachförderung. „In den Ferienworkshops ging es um Spielfreude und die Erfahrung, aufeinander bauen zu können“, erklärt Regina Bömer. Sich auf eine gute Zensur oder positive Bewertung durch Erwachsene als Ziellinie am Horizont zu fixieren, das wirke erfahrungsgemäß eher blockierend. Am Ende der „Zirkus der Vielfalt“-Kurse standen bunte Mosaike aus kurzen Spielszenen, Kunststücken und Zaubersprüchen. Rhythmisches Stampfen und das gemeinsame Singen des Hexenliedes beim abschließenden Fest auf dem Blocksberg festigte die neu entstandenen Beziehungen innerhalb der vielfältigen Kindergruppe. Das Erfolgserlebnis am Ende einer gelungenen Zirkuspädagogikwoche beschreibt Regina Bömer so: „Aus unsicheren, den Blickkontakt meidenden Kindern sind wache, fröhliche und präsente kleine Menschen geworden."

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Die Bundesarbeitsgemeinschaft Zirkuspädagogik unterstützt über das Förderprogramm „Zirkus gestaltet Vielfalt“ im Rahmen von „Kultur macht stark“ deutschlandweit zirkuspädagogische Projekte für Kinder und Jugendliche zwischen vier und 18 Jahren mit erschwertem Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur.
Weitere Informationen unter www.zirkus-vielfalt.de.