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Kinder und Jugendliche als Zukunftsmotor für ländliche Räume

Ländliche Räume bieten nicht nur sozialen Zusammenhalt und naturnahe Idylle, sondern sind häufig auch von starren Strukturen mit festen Regeln geprägt. Warum gerade die Perspektive von Kindern und Jugendlichen ein Motor für Ideen, Visionen und Veränderung ist, erklärt der Kulturgeograf Marc Redepenning.

Porträt Professor Redepenning
© privat

Herr Professor Redepenning, Sie erforschen die Bedeutung lokaler Identitäten in sehr abgelegenen ländlichen Regionen. Was genau ist die lokale Identität eines Ortes, aus welchen Elementen setzt diese sich zusammen?

Die lokale Identität hat zwei Dimensionen. Eine Dimension sind die lokalen Besonderheiten eines Dorfes wie bestimmte Baustile, Dialekte, Traditionen, Handwerkspraktiken oder auch Feste. Das Wissen um diese Besonderheiten wird selten durch formale Bildungsinstitutionen wie Schulen vermittelt, sondern im Alltagsleben und in Vereinen. Die zweite Dimension bezieht sich darauf, wie sich Menschen mit dieser lokalen Identität eines Ortes identifizieren. Bei Jugendlichen ist das oft eine Art Hassliebe. Lokale Identitäten sind also generationsabhängig, auch Geschlechterunterschiede sind dabei zu berücksichtigen. In einem Ort kann es verschiedene lokale Identitäten geben. Das macht die besondere kulturelle Komplexität ländlicher Räume aus. Gerade der andere, frische Blick, den Kinder und Jugendliche auf ein Dorf werfen, ist eine wichtige Ressource für Veränderung.

In Ihrem Forschungsprojekt „Tradierung – Vergewisserung – Doing Identity“ forschten Sie in zwei bayerischen Dörfern in der Peripherie. Ab wann gilt eine Region als Peripherie?

Dafür gibt es quantitative Definitionen. Ein Maßstab ist dabei die Bevölkerungsdichte: je dünner besiedelt, desto peripherer ist eine Region. Wichtiger ist aber die Erreichbarkeit von städtischen Zentren mit Arbeitsplätzen und Einrichtungen wie Behörden, Krankenhäusern und Geschäften. Je weiter Zentren entfernt sind, desto peripherer die Region. Wichtig ist aber auch: Die Definition von Peripherie geht immer von einem Zentrum aus und drückt damit ein Machtverhältnis aus. Vom Zentrum aus ist die Peripherie nicht nur weit weg, sie hat auch keinen großen gesellschaftlichen Einfluss und keine Macht.

Welchen Einfluss hat es auf die kulturelle Entwicklung junger Menschen, ob sie auf dem Land oder in der Stadt aufwachsen?

Für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, sich als Teil einer Öffentlichkeit zu präsentieren. Das kann in Jugendzentren, in Vereinen oder beim gemeinsamen Einkaufen mit Freundinnen und Freunden passieren. In der Stadt lässt sich der eigene Horizont viel leichter als auf dem Land verlassen und erweitern, weil es dort mehr Möglichkeiten gibt. In Dörfern trifft man Jugendliche nicht selten an der Bushaltestelle an, weil es dort oft keine alternativen öffentlichen Orte gibt. Die Überdachung einer Bushaltestelle kann daher schon ein erster, aber wichtiger Schritt in einem ländlichen Entwicklungsprojekt sein.

Trägt dieser Mangel an öffentlichen Orten dazu bei, dass viele Jugendliche mit dem Abschluss der Schulzeit vom Land in die Stadt ziehen?

Zum Teil, ja. Das Bedürfnis, aus einem Dorf wegzuziehen, wächst bei Jugendlichen aber auch durch die immer höhere Akademisierung der Bildung. Dass akademische Bildung in jedem Fall die beste Bildung ist, sollte man kritischer hinterfragen. Kommunen können Weggezogene aber auch zurückgewinnen. Das erreicht man durch eine hohe Bindungswirkung schon im Kinder- und Jugendalter. Die entsteht durch Räume der Selbstverwirklichung.

Was kann das Landleben Kindern und Jugendlichen im Unterschied zur Stadt in kultureller Hinsicht bieten?

Dorfgemeinschaften üben oft eine größere soziale Kontrolle aus. Dadurch entstehen aber auch leichter Bekanntschaften. Die Jugendlichen, mit denen wir in unserem Forschungsprojekt gesprochen haben, wussten das Vereinsleben ihrer Dörfer und die Überschaubarkeit zu schätzen. Auch in der Natur kann man sich selbst verwirklichen und Freiheit erfahren. Diese Ressource wird aber noch viel zu wenig ausgeschöpft.

Sie weisen in Ihrer Forschung darauf hin, dass die grobe Unterscheidung von Stadt und Land oft zu kurz greift. Wie kann kulturelle Bildung dazu beitragen, beide Räume einander anzunähern?

Jede Umgebung – ob Stadt oder Land – hat ihre eigene räumliche Komplexität, die es anzuerkennen gilt. Kulturelle Bildung kann helfen, diese Komplexität zu verstehen. Dazu gehört die Anerkennung lokaler Besonderheiten, aber auch die Fähigkeit zur Kritik. Was funktioniert gut in einem Ort, was weniger gut? Welche Besonderheiten sind da, welche sollten mehr gepflegt werden?

Orte mit einer starken lokalen Identität zeichnen sich in der Regel durch ein starkes Zugehörigkeitsgefühl und Traditionsbewusstsein der dort lebenden Menschen aus. Wie gelingt es, dieses Bewusstsein für ein aktives Mitgestalten zu nutzen?

Indem man Räume und Orte schafft, wo Kinder und Jugendliche hingehen, sich mit ihren Meinungen einbringen und auch Dinge erschaffen können. Das können zum Beispiel handwerkliche Werkstätten oder Repair-Cafés sein. Darüber hinaus sollten verantwortliche Personen in Politik, Verwaltung und Vereinen in ihren Strukturen Offenheit für junge Perspektiven lassen. Natürlich kennen Kinder und Jugendliche noch nicht alle Verwaltungsvorgänge. Aber sie bringen eine andere Sichtweise für ihr Dorf ein. Mit dieser Sichtweise sollte man sich auseinandersetzen, weil sie ein Motor für Ideen und Visionen ist. Leider fehlt häufig die Offenheit für diese kritischen, abweichenden Blicke. Das schwächt die Bindung von jungen Menschen an ihre Dörfer.

Immer mehr Menschen ziehen aus den Großstädten in ländlichere Regionen. Das birgt Potenzial für Konflikte zwischen Zugezogenen und Ansässigen. Wie kann kulturelle Bildung dieses Konfliktpotential thematisieren und Lösungen aufzeigen?

Ländliche Räume sind meist sehr stark durch Vereine geprägt und folgen bestimmten Spielregeln. Die muss man erkennen und akzeptieren, egal ob jung oder alt. Um diese Spielregeln zu verändern, müssen sich alle ein Stück weit auf sie einlassen. Das sind langwierige Prozesse, die Geduld und Offenheit von allen Beteiligten erfordern. Das größte Potenzial dazu bieten Kinder und Jugendliche. Sie hinterfragen meist zuerst den Sinn bestimmter Spielregeln. Kulturelle Bildung könnte dieses Potenzial noch stärker zum Thema machen und auch abseits der Bildungsinstitutionen, etwa in Vereinen sichtbar machen.

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Marc Redepenning ist Professor für Kulturgeografie an der Universität Bamberg. Dort forscht er zu lokalen Identitäten von Orten und ihrem Einfluss auf die Entwicklung von Menschen. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem das Verhältnis von Stadt und Land in gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, partizipative Ansätze und Methoden auf lokaler Ebene, Geographien der Gerechtigkeit und des Wohlbefindens und Raumtheorie.