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„Religion und Kultur prägen einander“

Prof. Christoph Knoblauch lehrt Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Ein Gespräch über Vorurteile als Nährboden für Diskriminierung, aber vor allem auch über kulturelle und religiöse Vielfalt im Bildungskontext.

Herr Prof. Knoblauch, wie prüft man sich selbst, ob man in Denkmustern und Stereotypen verhaftet ist?

Prof. Christoph Knoblauch: Indem man die eigenen Vorstellungen hinterfragt. Oft sind sie durch Stereotype geprägt und man sucht nach Bestätigung dieser Sicht. Nehmen wir das folgende Beispiel: Sie belegen Menschen aus Norddeutschland mit bestimmten Eigenschaften, bezeichnen sie etwa als reserviert. Auf welcher Basis tun Sie das? Wo ziehen Sie die Grenze? Woher kommt ihr Wissen? Kennen Sie jemanden aus Norddeutschland persönlich? Das sind alles Fragen, die Ihre Perspektive und damit gewisse Stereotype prägen. Man sollte wachsam bleiben und sich selbst beobachten. Was auch hilft, ist der Wechsel der Perspektiven und das Hinterfragen von Klischees: Treffen die Eigenschaften, die ich einer Gruppe zuordne, auch wirklich auf das einzelne Individuum zu? Das ist eigentlich nie der Fall.  

Wenn man Menschen aufgrund von Annahmen gedanklich in Schubladen sortiert, tritt man ihnen nicht offen entgegen. Was kann daraus entstehen?

Dann entsteht ein Nährboden für Diskriminierung. Stellen Sie sich eine gebeugte, alte Frau mit einem Kopftuch vor, die gebrochen Deutsch spricht. Alter, Geschlecht, Religion und die Sprache – all das können Faktoren für Diskriminierung sein, im erwähnten Beispiel für Mehrfachdiskriminierung. Personen können gleichzeitig mehreren benachteiligten Gruppen angehören und bestimmten Formen von Diskriminierungen ausgesetzt sein.

Kulturelle Bildung, die Beschäftigung mit kulturellen Ausdrucksformen, Spiel und Kunst helfen auch dabei, die Welt zu begreifen. Welche Rolle spielt die Religion dabei?

Religion prägt kulturelle Bildung: Musik, Malerei, Kleidung, aber auch zum Beispiel Speisen sind beeinflusst von Religion. Das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Religion wird von Kultur geprägt und Kultur wird von Religion geprägt ­– das macht Vielfalt aus. Interessant ist dabei der Sozialisationskontext: familiäre, religiöse und gesellschaftliche Hintergründe sind sehr häufig unterschiedlich und prägen auch weltanschauliche und religiöse Überzeugungen.

Welche Chancen bieten interreligiöse Ansätze, Vielfalt zuzulassen?

Religion und Kultur stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander und beeinflussen wesentliche gesellschaftliche Themen, wie Bildung, Werte und moralische Vorstellungen. Dabei muss die Vielfalt religiöser Überzeugungen mitbedacht werden: Interreligiöse Ansätze sensibilisieren dafür, jeder kann sich selbst fragen: ,Was prägt mich? Auf welchen Werten basiert mein Handeln?‘ Zudem laden diese Ansätze dazu ein, sich nicht nur mit grundlegenden Wahrheiten und Überzeugungen anderer zu beschäftigen, sondern natürlich auch anderen Menschen zu begegnen, sie und ihre Religion kennenzulernen.

Interreligiöse Ansätze verlangen also auch Selbstreflexion?

Interreligiöses Lernen funktioniert nach einem Doppelprinzip. Wenn Sie als Christin etwas über den Islam lesen, beschäftigen Sie sich auch mit Ihrer eigenen Religion. Jesus wird etwa im Koran gewürdigt als Gesandter, als Prophet. Es gibt in der Bibel und im Koran verbindende, gemeinsame Themen wie etwa Barmherzigkeit.

Wo finden Kinder und Jugendliche Raum, sich selbst wahrzunehmen und die Einzigartigkeit des anderen zu entdecken?

Die religiöse und kulturelle Vielfalt prägt bereits die Kleinsten im Kindergarten und fortführend natürlich in der Schule. Feiertage, Kleidung, Speisen – pädagogische Fachkräfte kennen das aus ihrem Arbeitsalltag. Natürlich treffen dabei auch unterschiedliche kulturelle und religiöse Vorstellungen aufeinander, wenn interagiert wird. Der soziale Nahraum ist dabei wichtig, also auch die Eltern, die Familie, die Freundinnen und Freunde, das Umfeld.

Wie ist es um das Bewusstsein für kulturelle Vielfalt im Bildungsbereich bestellt? Und wird sie als Bereicherung gesehen?

Das Bewusstsein ist vorhanden, würde ich sagen. Vielfalt wird diskutiert und ist häufig Thema von Fortbildungen und Handreichungen. Pädagogische Fachkräfte beschäftigen sich mit interkulturellen Kompetenzen. Ich würde aber auch sagen, die Kompetenzen können nicht immer aktiviert werden. Häufig fehlt die Zeit, sich mit den vielfältigen Hintergründen der Kinder zu beschäftigen – doch genau das bietet Chancen, Vielfalt als Bereicherung in der Kita aufzunehmen. Eltern und der soziale Nahraum können eingeladen werden und Vielfalt erlebbar machen.

Worauf können Akteurinnen und Akteure im Bildungsbereich vor allem achten, wenn sie diversitätssensibel sein möchten?

Wie bereits zu Beginn erwähnt, ist es wichtig, für die eigenen Bias, das heißt kognitive Verzerrungen und Vorurteile, sensibilisiert zu sein. Sich für die Sozialisationshintergründe der Lernenden oder im Fall von „Kultur macht stark“ der Teilnehmenden an kulturellen Bildungsangeboten zu interessieren, ist sicherlich auch eine gute Idee. Vielfaltssensible Konzepte sehen auch vor, die tägliche Praxis zu reflektieren, etwa das Material darauf zu überprüfen, ob es noch zeitgemäß ist. Bücher und Materialien sollten regelmäßig diskutiert und hinterfragt werden – so können wir verhindern, dass Vorurteile immer wieder neu produziert werden.  Sozialräume zu kennen und idealerweise untereinander zu vernetzen, halte ich für erfolgversprechend.

Wo liegen die Chancen der kulturellen Bildung für die Migrationsgesellschaft?

Unsere religiösen und kulturellen Vorstellungen sind dynamisch und entwickeln sich, wenn wir für uns und mit anderen über sie nachdenken. Die Fähigkeit, eigene Ansichten und Überzeugungen reflektieren zu können, ist grundlegend. Es gibt viele gute Ansätze und Begegnungen, ich habe aber den Eindruck, unsere Gesellschaft lässt viele dieser Chancen liegen. Vorurteile zu entlarven und abzuschaffen, bleibt eine ständige Aufgabe in unserer Gesellschaft.

Wie geht man der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg mit dem Thema Diversität in Lehre und Forschung um?

Im Wintersemester 2021/22 hat etwa das Institut für Kulturmanagement zu einer interdisziplinären Ringvorlesung eingeladen und der Frage nachgespürt, wie Kultur- und Medienarbeit in der pluralistischen Gesellschaft aussehen kann. Ich biete jedes Jahr Veranstaltungen zum Thema „Diversity Education“ an und betrachte dies als Querschnittsthema. Ansonsten veröffentlicht die Stabsstelle für Gleichstellung regelmäßig kommentierte Vorlesungsverzeichnisse zum Semesterstart. Dort sind gender- und diversitätsbezogene Themen und Veranstaltungen an der Hochschule übersichtlich aufgelistet.

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Prof. Christoph Knoblauch lehrt seit 2018 als Professor für Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind religiöser und interreligiöser Kompetenzerwerb, interreligiöse Bildung (Religionsunterricht und Frühe Bildung), kulturelle und religiöse Vielfalt in Bildungskontexten, bildungsphilosophische Grundfragen, religionssensible Bildung und internationale Perspektiven der Religionspädagogik. Die PH Ludwigsburg begreift Diversität als Chance und forscht auch dazu.