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Kulturelle Bildung – rassismuskritisch befragt

Interview zum Forschungsprojekt „Flucht – Diversität – Kulturelle Bildung. Rassismuskritische und diversitätssensible Diskursanalyse kultureller Bildung im Kontext von Flucht und Migration“.

​Prof. Dr. Marion Gerards (Projektleitung), Susanne Bücken und Johanna Meiers (wissenschaftliche Mitarbeiterinnen) arbeiteten von 2016 bis 2020 an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) im Forschungsprojekt „Flucht – Diversität – Kulturelle Bildung. Rassismuskritische und diversitätssensible Diskursanalyse kultureller Bildung im Kontext von Flucht und Migration“. Im Interview befragten wir die drei Forscherinnen, was ihnen unter anderem in 1.270 Antragsformularen zu „Kultur macht stark“-Projekten aufgefallen ist.

  1. Was haben Sie konkret in Ihrem Forschungsprojekt untersucht und wie sind Sie dabei vorgegangen?

Marion Gerards: Wir haben uns im Rahmen des Forschungsprojekts mit dem Diskurs der Kulturellen Bildung beschäftigt und ihn darauf befragt, welche Wissensbestände zu Flucht und Migration dort vorzufinden sind. Es ging uns also nicht um die konkrete Praxis in Kulturprojekten, sondern um das, was in diesen Kontexten zu den Themenfeldern Flucht und Migration gesagt oder eben auch nicht gesagt wird. Mit diesem Interesse haben wir die 2013 bzw. 2016 bundespolitisch auf den Weg gebrachten Förderprogramme ‚Kultur macht stark‘ (KMS) und ‚Kultur macht stark plus‘ (KMS+) untersucht. Weiterhin haben wir den migrationsgesellschaftlichen und fluchtbezogenen Diskurs auf wissenschaftlichen, kulturpädagogischen und kulturpolitischen Tagungen in unsere Forschung aufgenommen.

Johanna Meiers: Unser Erkenntnisinteresse richtete sich darauf, wie im Diskurs zur künstlerisch-ästhetischen Bildung Vorstellungen von Kunst und Kultur mit gesellschaftlich-politischen Themen sowie normativen Annahmen über Flucht und Migration verknüpft sind. Dies haben wir aus einer rassismuskritischen und diversitätsbewussten Perspektive getan und dabei auch andere Differenzkategorien wie Geschlecht, Klasse, Körper/Behinderung intersektional einbezogen. Unser zentrales Analysematerial waren die Förderanträge von KMS / KMS+: Aus den insgesamt ca. 14.000 Anträgen haben wir 1.270 Anträge als relevantes Diskursmaterial erhoben.

Susanne Bücken: Unser methodisches Vorgehen orientierte sich dabei am diskursanalytischen Ansatz von Michel Foucault, der davon ausgeht, dass der Diskurs zugleich die soziale Wirklichkeit erzeugt, von der er spricht. Übertragen auf die Kulturelle Bildung bedeutet dies, dass der untersuchte Diskurs soziale Wirklichkeiten auch für die Praxis der Kulturellen Bildung konstruiert und damit wirkmächtig ist. Mit diesem theoretisch-methodischen Zugang haben wir in den Anträgen von KMS / KMS+ und in den anderen Materialien Wiederholungen und Verdichtungen von Aussagen festgestellt und analysiert, die auf rassifizierte und dominanzkulturelle Wissensbestände zu Flucht und Migration hinweisen.

  1. Welchen Denkmustern, Stereotypen und Formulierungen sind Sie bei Ihrer Analyse im Kontext kultureller Bildungsangebote begegnet?

Susanne Bücken: Konkret untersuchten wir, wie zur Migrationsgesellschaft und zu Menschen mit Fluchterfahrungen gesprochen wird. Aus einer rassismuskritischen Perspektive ist dabei relevant, welche kollektiven Merkmale geflüchteten Menschen zugeschrieben werden und welches Kunst- bzw. Kulturverständnis in diesen Sprechweisen deutlich wird. Und es interessierte uns, ob Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von geflüchteten Menschen thematisiert werden. Die Ergebnisse zur letztgenannten Analyseperspektive zeigen für den untersuchten Diskurs KMS / KMS+, dass Rassismuserfahrungen als benachteiligender Faktor in den Anträgen nahezu nicht benannt werden. Die dominanten Denkfiguren, Deutungsmuster und Wissensordnungen, die wir in der Analyse erkannt haben, machen insgesamt deutlich, dass Migration im Diskurs der Kulturellen Bildung als defizitär bzw. als gesellschaftliche Abweichung verstanden wird. In nur wenigen Anträgen wurden geflüchtete Menschen als kompetente und handlungsfähige Subjekte beschrieben, beispielsweise in Bezug auf ihre Mehrsprachigkeit, oder ihr Recht auf kulturelle Teilhabe und auf eigene künstlerische Praxis in den Mittelpunkt gerückt.

Johanna Meiers: Aufgefallen ist uns, dass Interkulturalität als ein Deutungsmuster im untersuchten Diskurs zentral ist. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass über Kulturelle Bildung Austausch, Begegnung oder Verständigung zwischen Menschen stattfinden soll, die der ‚deutschen‘ Dominanzkultur und ‚anderen‘ Kulturen zugeordnet werden. Die kulturellen Praxen der geflüchteten Menschen werden dabei oft als exotisierende Bereicherung für die Dominanzgesellschaft gesehen bzw. instrumentalisiert. Problematisch ist in diesem interkulturellen Verständnis, dass Refugees so als vermeintlich kulturell ‚Andere‘ hergestellt werden. Dieses sogenannte Othering beruht auf weißen und europäischen Wissensbeständen, in denen koloniale Ideen und Bilder wirksam sind. Das zeigt sich darin, dass ein stereotypisierendes Wissen zur Kultur und Herkunft der Refugees aufgerufen wird, welches diese als weniger kompetent, zivilisiert und aufgeklärt, sondern vielmehr als kulturell fremd und nicht zugehörig konstruiert.

Marion Gerards: Damit geht ein geschlossenes Kulturverständnis einher, das v.a. hochkulturell und eurozentristisch orientiert ist. Kulturelle Bildung wird zudem mit einem Zivilisierungsanliegen verknüpft und der ästhetischen Praxis die Aufgabe einer dominanzkulturellen Wertevermittlung übertragen. Wenn z.B. Akteur_innen in der Kulturellen Bildung zu wissen meinen, was geflüchtete Menschen brauchen, dann zeigt sich darin sowohl ein Überlegenheitsdenken als auch ein paternalistisches Kultur- und Bildungsverständnis, mit dem der Anspruch einer Allzuständigkeit der Kulturellen Bildung verbunden ist.
 

  1. Was empfehlen Sie Akteurinnen und Akteuren der kulturellen Bildung bei der Konzeption ihrer Projekte? Was könnte stärker berücksichtigt, was vielleicht auch anders als bisher angegangen werden, um die Chancen der kulturellen Bildung für die Migrationsgesellschaft auszuschöpfen? 

Johanna Meiers: Unsere Empfehlungen richten sich nicht auf die konkreten ästhetischen Praxen in Kulturprojekten, denn diese haben wir ja nicht untersucht, aber sie richten sich an alle Akteur_innen der künstlerisch-kulturellen Bildung und der Kultur- und Bildungspolitik. Denn wir halten es für dringend notwendig, das eigene Wissen zu den Themenfeldern Flucht, Migration, Kunst und Kultur macht- und rassismuskritisch zu hinterfragen und einer Revision zu unterziehen. Aus der Antidiskriminierungsarbeit und auch aus der eigenen Erfahrung wissen wir, dass diese Überprüfung des eigenen Wissens mit Verunsicherungen einhergehen kann, weil Haltungen, Annahmen und gewohnte Praxen – auch in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht – infrage gestellt werden. Aber nur mit einer macht- und rassismuskritischen Perspektive kann es gelingen, zukünftig Förderprogramme und Konzepte zu entwickeln, die diese stereotypisierenden Zuschreibungen und Kulturalisierungen vermeiden und die Räume dafür öffnen, das eigene Eingebundensein in rassistische Machtverhältnisse zu reflektieren.

Susanne Bücken: Es geht dann auch darum, finanzielle Ressourcen für Weiterbildungen der Akteur_innen in Projekten der Kulturellen Bildung zur Verfügung zu stellen, in denen Erkenntnisse der Rassismuskritik, der Postcolonial und Cultural Studies sowie der Intersektionalitätsforschung praxisrelevant gemacht werden. Diese Perspektiven sind ebenfalls für die kultur- und bildungspolitischen Strukturen der Kulturellen Bildung bedeutsam und machen die Entwicklung von rassismus- und diskriminierungskritisch orientierten Förderprogrammen und damit die Abwendung von dem Konzept der defizitären Zielgruppenorientierung im Bereich der Kulturellen Bildung erforderlich.

Marion Gerards: Die Chancen der Kulturellen Bildung für die Migrationsgesellschaft liegen unserer Ansicht nach vor allem darin, sich konsequent an dem grundlegenden Menschenrecht auf Bildung sowie auf kulturelle Teilhabe und Teilgabe auszurichten und nicht nach Wirkungs- und Verwertungslogiken zu fragen. Dafür müsste in der Kulturellen Bildung von einer fraglosen Zugehörigkeit aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zur deutschen Gesellschaft ausgegangen werden. Nur so kann Kulturelle Bildung ihren Beitrag dazu leisten, Menschen in ihren eigenen künstlerisch ästhetischen Praxen nicht einzuschränken oder zu diskriminieren, sondern ihnen umfassende Möglichkeiten für eine freie und selbstbestimmte kulturelle Teilhabe und Teilgabe zu eröffnen. Dies wäre neben einer machtkritischen Überprüfung der eigenen Wissensbestände eine zentrale Gelingensbedingung für eine rassismuskritische und diversitätssensible sowie solidarische Kulturelle Bildung.

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Die zentralen Ergebnisse des Forschungsprojekts wurden im digitalen Fachforum KULTUR MACHT ANDERE am 8.6.2020 vorgestellt. Eine ausführlichere Darstellung zum Nachlesen findet sich im Abschlussband „Kulturelle Bildung. Theoretische Perspektiven, methodologische Herausforderungen und empirische Befunde“ (2020) des BMBF-Förderprogramms.