Navigation und Service

-

„Tazkir“ heißt Erinnern

Im Projekt „Tazkir – Ausgrabungen der Gegenwart“ beschäftigten sich Berliner Kinder und Jugendliche mit dem Kulturerbe ihrer Herkunftsländer im Nahen Osten. Ein Besuch im Pergamonmuseum war die Basis für eine eigene Wanderausstellung.

Wie fühlt sich die weitgereiste Schutzgottheit Lamassu aus Mesopotamien im Pergamonmuseum auf der Museumsinsel in Berlin? Die 23 Teilnehmenden des Ausstellungsworkshops „Tazkir – Ausgrabungen der Gegenwart“ im Alter von acht bis 18 Jahren sahen sich das mythische Fabelwesen bei ihrem Besuch im Pergamonmuseum mit verwunderten und interessierten Blicken an. Dieses fantastische Wesen, das in sich Merkmale von Stier, Mensch und Vogel vereint, hatten die meisten von ihnen noch nie gesehen. Artefakte wie die Lamassu-Statue oder auch der Phoenix-Raubvogel (Syrien) gehören zum Kulturerbe ihrer Herkunftsländer. In der deutschen Kolonialzeit wurden Heiligtümer wie Schutzfiguren oder das Ischtar-Tor aus dem Osmanischen Reich nach Deutschland verschleppt, wo sie heute in der Museumsabteilung des Nahen Ostens im Pergamonmuseum zu sehen sind. Mit dieser Geschichte haben sich die Kinder und Jugendlichen, deren Wurzeln im Irak, dem Libanon, Syrien, Palästina, aber auch in Deutschland liegen, kritisch auseinandergesetzt. Ihren Ideen, ihren Gedanken und Gefühlen haben sie dabei künstlerisch Ausdruck verliehen. „In den Kulturgütern findet sich die Geschichte ihrer Herkunftsländer wieder und damit ein Teil ihrer Identität“, sagt Nahed Mansour, künstlerische Leiterin und Initiatorin des Projekts. Gemeinsam mit dem Team vom Kunsthaus 360°, Juliane Jeschke und Micha Otto, war sie für die Konzeption und die künstlerische Umsetzung von „Tazkir“ verantwortlich.

Zusammengeschlossen hatten sich für das „Kultur macht stark“-Projekt viele Beteiligte: Das „Kunsthaus 360° – Raum für Kreativität“, das „Museum Lichtenberg im Stadthaus“, das „Institut für Kunst im Kontext“, das zur Universität der Künste Berlin (UDK) gehört, der „Grüne Campus Malchow – Schule im Grünen“, „Trickmisch – das Mobile Sprachlabor“, die Gemeinschaftsunterkunft Wartenberger Straße und der Treffpunkt „Multaka“.

Kind malt Löwe und Turm.
Die Kinder setzen das Erlebte nach dem Museumsbesuch in eigene Kunstwerke um. © Lea Wilson
„Tazkir“ ist das arabische Wort für Erinnern

Teil des Projektes war neben dem Besuch im Pergamonmuseum die künstlerische Verarbeitung der dabei gesammelten Eindrücke. In zwei einwöchigen Workshops im Sommer 2021 beschäftigten sich die Teilnehmenden kritisch und kreativ mit dem Kulturerbe des Nahen Ostens und mit seiner Rezeption hierzulande.

„Tazkir heißt Erinnern“, sagt Nahed Mansour. „Nach der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Artefakte im Pergamonmuseum haben die Kinder und Jugendlichen die Ausstellung fotografisch dokumentiert und danach künstlerisch interpretiert und bearbeitet“, erzählt die Künstlerin. Auf den großen Arbeitsflächen und in den Werkstätten des Kunsthauses 360° haben sie collagiert, geschnitten, gemalt, gebastelt, geklebt und sich dabei mit der kolonialen Kunst auseinandergesetzt. Künstlerischen Input und Anleitung erhielten sie von der aus Tripolis im Libanon stammenden Nahed Mansour und Künstlerinnen und Künstlern der UDK Berlin sowie des „Instituts für Kunst im Kontexts“ wie Redwane Jabal, Kifan Alkarjousli und Ahmad Yassin.

Nahed Mansour hatte in den Wohn- und Gemeinschaftsunterkünften des Berliner Bezirks Neu-Hohenschönhausens für das „Kultur macht stark“-Projekt geworben. Weitere Teilnehmende kamen vom Bündnispartner Grüner Campus Malchow – Schule im Grünen in Lichtenberg. „Viele der Teilnehmenden sprachen noch kein fließendes Deutsch“, erzählt Juliane Jeschke vom Kunsthaus 360°. Wertvolle Unterstützung kam hier vom Bündnispartner „Multaka: Treffpunkt Museum“, der auf Initiative des Museums für Islamische Kunst Geflüchtete und Einwanderer mit syrischem oder irakischem Hintergrund zu Museumsguides ausbildet: Für die Workshopausflüge ins Pergamonmuseum konnte mit dieser Hilfe muttersprachliche Begleitung organisiert werden. Die Räume für die abschließende Projektausstellung wurden vom Museum Lichtenberg und dem Kunsthaus 360° zur Verfügung gestellt. Dort konnten die vielseitigen, von der Pergamonausstellung inspirierten Kunstwerke und Installationen der Kinder und Jugendlichen in einer multimedialen Wanderausstellung mit gleichnamigem Titel „Tazkir – Ausgrabungen der Gegenwart“ von September 2021 bis Januar 2022 gezeigt werden. Danach wanderten die künstlerischen Arbeiten in die Gemeinschaftsunterkunft Wartenberger Straße, wo sie ebenfalls ausgestellt wurden.

Kinder und Jugendliche nahmen die Perspektive der Artefakte ein

„Das Ergebnis war eine sehr kreative und persönliche Ausstellung“, betont Juliane Jeschke. Denn die Kinder und Jugendlichen haben sich für ihre Bilder und Installationen, Schriftzüge und Dichtungen zum Teil in die Perspektive der Artefakte aus dem Nahen Osten versetzt. „Für die verschiedenen mesopotamischen Relikte haben die Teilnehmenden jeweils eine eigene Geschichte und damit eine für sie wichtige, eigene Bedeutung gefunden“, sagt Nahed Mansour. Zum Beispiel versetzten sie sich in die Skulptur eines sumerischen Priesters. Emma und Jamila fanden gar: „Dieser Priester wurde aus dem heutigen Irak ins Museum nach Deutschland gebracht und weil er davon so überrascht war, hat er so große Augen gemacht.“

Skulptur der Schutzgottheit Lamassu
Auch die Schutzgottheit Lamassu beeindruckte die Kinder und Jugendlichen, weshalb sie aus Pappmaché nachbauten und mit Friedenswünschen versahen. © Nahed Mansour
Der eigenen Identität näherkommen

„Die verbundenen Augenbrauen und die großen Augen sind generell ein Merkmal der sumerischen Skulpturen“, klärt Nahed Mansour auf. Die Sumerer gelten als erstes Volk, das den Schritt zur Hochkultur getan hat. Das Schutzwesen Lamassu bauten die Teilnehmenden aus Pappmaché nach und versahen es mit Schutzwünschen für Frieden und für das Ende des Krieges in ihren Herkunftsländern und in allen Ländern des Nahen Ostens.

Mit ihrem selbstgemachten Museum konnten die Kinder und Jugendlichen an die Geschichte der Artefakte im Pergamonmuseum erinnern und sich gleichzeitig mit ihrer eigenen Migrationsgeschichte auseinandersetzen und der eigenen Identität näherkommen.